Ungewaschene Petersilie, Waschbrücken und der Thingplatz

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(Foto: Volkspark, ca. 1970 aus der Sammlung Meikel Mainz / Foto: Hauptbahnhof Mitte der 70er, Liborio Lee Palermo II))

„Was liegt denn da auf dem Petersilienbeet?“ Petra bückt sich und hebt das leicht bräunliche Papier hoch.

„Das ist von einer Zeitung.“ Carolin nimmt ihrer Freundin das Blatt ab. „Da steht ein Datum: 8. August 1968, also von vor ein paar Tagen.“ Sie demonstriert gerne, wie gut sie schon lesen kann. „Richard N-i-x-o-n, steht da, und: P-r-ä-s-i-d-e-n-t.“ Die Worte kann sie allerdings nur mit Ach und Krach entziffern.

Beide sehen sich ratlos an. Petra zuckt die Achseln, nimmt Carolin das Papier weg und wirft es in den Abfalleimer, der ganz in ihrer Nähe am Gartenzaun steht.

„Gehen wir nachher noch auf den Spielplatz?“

Bedauernd schüttelt Carolin den Kopf. „Ich werde bald von meiner Mama abgeholt. Wir gehen zum Thingplatz.“

„Thingplatz? Kenn ich nicht.“ Petra schüttelt unwillig den Kopf. „So was gibt es in Mainz nicht.“

„Doch.“ Carolins Stimme klingt gepresst. Sie ist vor dem Petersilienbeet in die Hocke gegangen und zieht jetzt mit aller Kraft an einer Pflanze. „Geht gar nicht so einfach raus“, stöhnt sie. Schließlich schafft sie es, eine Pflanze mit den Wurzeln auszureißen. Durch den Schwung wackelt sie in ihrer ohnehin instabilen Position und fällt nach hinten auf den Po. „Au!“ Die kleinen Kieselsteine pieken. Bei diesen heißen Temperaturen trägt sie nur ein kurzes Sommerkleid, eines mit orangefarbenen großen Blumen, das sie zu ihrem achten Geburtstag bekommen hat. Sachen zum Anziehen sind ja keine ganz richtigen Geschenke so wie Spielsachen, aber immerhin sind Kleider noch besser als Strumpfhosen oder Unterhosen oder Socken …

Petra lacht. „Gib mir was ab und erklär mir das mit dem Thingplatz.“

Unbeholfen steht Carolin auf, reibt sich mit der einen Hand den Oberschenkel. Mit der anderen hält sie Petra die Petersilie hin. An den Wurzeln hängt noch Erde. „So wie ich meine Tante verstanden habe, gehört der Platz im Volkspark, der so ähnlich wie ein Spielplatz ist, aber mit Wasserbecken, zum Thingplatz. So ganz genau hab ich es auch nicht verstanden.“

„Ach und da fahrt ihr gleich hin?“ Petra zieht eine Brutsche.

„Ja, leider. Meine Tante und meine Kusine holen meine Mama ab. Dann kommen sie her und dann muss ich mit …“, erklärt Carolin mit Bedauern.

Dann stopfen sie sich gleichzeitig die Petersilie in den Mund. Es knirscht. Sie kneifen die Augen zusammen, weil es nach einer Weile bitter schmeckt. Dann lachen sie so lange, bis ihnen der Bauch wehtut.

„Auch Schnittlauch?“, prustet Petra.

„Klar!“ Carolin schluckt die letzte Petersilie runter. Ihre ganze Zunge bitzelt.

Petra zieht ein ähnliches Gesicht. Beide wissen: Beim Schnittlauch wird es noch schlimmer. Der schmeckt nämlich fast wie ne Zwiebel, brennt auf der Zunge und nach einer Weile kommen einem die Tränen.

„Robbd iä schunn widdä de Schniddlauch eraus?“ Aus einem Fenster des Nachbarhauses keift die alte Frau Schmidt. Dabei droht sie ihnen mit dem rechten Zeigefinger. „Isch sach´s deuner Oma, Carolin!“

In diesem Moment kommt Marie, Carolins Mama, durch die Tür des Reihenmiethauses, in dem ihre Oma wohnt. – Diese Tür zum Garten hin liegt im Kellergeschoss des Hauses und ist eigentlich die Hintertür. Marie geht die wenigen Stufen hinauf, dreht sich dann zu Frau Schmidt um und sagt ganz freundlich: „Was die Kinder in DIESEM Garten machen …“ Sie beschreibt mit dem ausgestreckten rechten Arm einen Halbkreis. „ … der zu DIESEM Haus gehört …“ Damit zeigt sie auf das Haus, aus dem sie gerade gekommen ist. „…geht Sie überhaupt nichts an.“ Dann winkt sie die Kinder zu sich.

Frau Schmidt schimpft vor sich hin, brabbelt irgendetwas, knallt dann ihr Fenster zu. Meine Mama, denkt Carolin und das Herz geht ihr auf.

Die beiden Mädchen nehmen die Beine in die Hand und stürmen los.

„Na, ihr habt ja wieder Dreck um den Mund.“ Marie lächelt. In der Hand hält sie die bunte Schwimmbadtasche.

Carolin und Petra wischen sich über die Schnuten.

„Petra, ich habe deine Mama gefragt. Du kannst mitkommen. Deinen Bikini und ein Handtuch hat sie mir gegeben. Wir fahren mit meiner Schwester und meiner Nichte zu dem Wasserspielplatz im Volkspark.“

„Oh ja!“ Petra und Carolin freuen sich. Sie sind nun mal beste Freundinnen.

Gemeinsam gehen sie zurück ins Haus, treten ins Souterrain ein. Die Kühle ist eine Wohltat. Die Tür zur Waschküche steht auf. Bedauernd schauen sich die beiden Mädchen an. Wäre Carolins Mama nicht dabei, würden sie die Gelegenheit nutzen und in diesen magischen Raum schlüpfen, was strengstens verboten ist.

Carolin läuft ein wohliger Schauer über den Rücken. Petras Gesichtsausdruck nach zu urteilen, geht es ihr ähnlich. Bei den heißen Temperaturen, die gerade herrschen, ist der Gedanke nicht so verlockend, aber wenn es kälter ist, sieht Carolin ihrer Oma leidenschaftlich gern dabei zu, wie sie mit einem gigantischen Stock in einem eisernen Topf rührt, der ihr bis zur Taille reicht. In diesem geradezu monströsen Gefäß schwimmen Kleider in heißer Waschlauge herum. Das Wasser blubbert, Dampf steigt auf und erfüllt den ganzen Raum. Ihre Oma redet dann manchmal darüber, wie es früher war. Bei einer solchen Gelegenheit erzählte sie Carolin einmal, dass die Frauen früher ihre schmutzigen Kleider auf einer „Wäschbrigg“ im Rhein mit der Hand gewaschen haben.

Als die beiden hinter Marie die Treppe zum Erdgeschoss hinaufgehen, knufft Petra Carolin in den Arm und nickt zur Seite. Da befindet sich nämlich die „Grusel-Nische“, ein weiterer geheimer und magischer Ort. Der winzige, niedrige, dunkle Platz liegt genau unter der Treppe, die vom Eingangsbereich zu den Wohnungen im ersten Stock führt. Dort kauern sie sich manchmal hin, wohlwissend, dass man ihnen im Fall der Entdeckung die Ohren lang ziehen wird. Das Vergnügen besteht darin, im Dunklen zu hocken und darauf zu lauschen, ob jemand im Treppenhaus unterwegs ist. Dann wird gebibbert, aber gleichzeitig gehofft, dass diese Person in den Keller oder die Waschküche geht. In der letzten Phase des Grusel-Abenteuers klammern sie sich aneinander, halten den Atem an: Werden sie entdeckt oder nicht?

Auch das können sie jetzt nicht machen. Sie müssen zum Thing-Dingsda.

 

Im VW-Käfer von Tante Hilde quetschen sich Carolin und Petra, zusammen mit Carolins gleichaltriger Kusine Stephanie auf den Rücksitz. Weil der Kofferraum voll ist und Marie auf dem Beifahrersitz schon ihre Badetasche auf dem Schoß hält, haben die Mädchen einen riesigen Korb mit Kartoffelsalat, belegten Broten und etwas zu trinken auf den Knien. Den schieben sie unwillig hin und her. In dem vollen Auto ist es mehr als kuschelig. Alle schwitzen, obwohl die beiden vorderen Fenster zur Hälfte runtergekurbelt sind. Was hereinbläst ist heiß und trocken, schmerzt in den Augen.

„Da machen wir uns aber einen schönen Nachmittag“, ruft Tante Hilde gut gelohnt.

Immer wieder ruckelt der Wagen. Tante Hilde hat den Führerschein noch nicht so lange. Sie ist die einzige Frau, die Carolin kennt, die Autofahren kann.

„Mama, hast du Sunkist eingepackt?“, kräht Stephanie und schiebt den Korb etwas mehr nach links auf Petras Knie. Petra hat den Hauptgewinn gezogen, sie sitzt in der Mitte der Rückbank.

„Natürlich“, zwitschert Tante Hilde und kuppelt.

Alle gehen mit den Oberkörpern nach vorne. Marie stöhnt leise. Ihr wird leicht schlecht.

„Könnten wir schon eine haben?“, fragt Carolin vorsichtig.

„Auf keinen Fall, mein Schatz.“ Tante Hilde lacht.

Liborio Lee Palermo II, 1978b

Viel geredet wird nicht mehr, denn so eine Fahrt von Bretzenheim nach Weisenau ist fast eine Reise, aufregend und atemberaubend. So oft macht man das nicht, höchstens am Sonntag mit den Papas. Mit Bus und Straßenbahn dauert es ewig. Man fährt entweder mit der 8 oder der 13 und nimmt dann ab Hauptbahnhof die Linie 22. Die drei Mädchen halten den Korb fest und hängen ihre Nasen in den Fahrtwind.

Etwas später legen sie kichernd ihre Handtücher auf den Rasen im Volkspark. Marie und Hilde halten Tücher hoch, damit die Mädchen sich ihre Bikinis anziehen können.

„Was für ein Haus!“ Stephanie ist restlos fasziniert von dem Hochhaus, das in einiger Entfernung wie ein Wächter in den tiefblauen Himmel ragt.

Ja, solche gibt es nicht so oft. Nach einer Sunkist zur Stärkung laufen die Mädchen zu den Wasserbecken, während Marie und Hilde in ihren Sommerkleidern, mit Sonnenbrillen und –hüten auf einem Mäuerchen sitzen und sich unterhalten.

Mit vielen anderen Kindern und unter immensem Geschrei balancieren Carolin, Petra und Stephanie über den gezackten Rücken der Drachenschlange, klettern die Stufen zur Rutsche hinauf, sausen hinunter und kreischen, wenn sie im Wasserbecken ankommen …

Thing-Dinsda oder wie auch immer – das hier ist das wahre Leben!

 

Geschichten und Erinnerungen von Paula Dreyser.

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Die Bewerbung für die Leserunde auf Lovelybooks läuft noch bis 10.7.. Die ausgelosten Teilnehmer erhalten ein Taschenbuch.

 

 

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Sommer 1972: Stadtpark-Idylle und Brückengeheimnisse

Volkspark, tadtpark 79. 3

(Fotos aus der Sammlung Meikel Mainz: Stadtpark 1972 / Blick auf die Favorite 1970 / Bau der Alexander-M.-Patch-Brücke, 1945)

 

„Beeil dich, Bettina!“ Ungeduldig trippelt Carolin von einem Fuß auf den anderen. „Ist dringend.“

„Ja, ich versteh schon.“ Bettina legt einen Schritt zu.

Die beiden Mädchen laufen zügig, werden immer schneller.

„Dass es auf dem Minigolfplatz kein Klo gibt, ist echt Mist“, stöhnt Carolin.

„Das kannst du laut sagen. Der Weg zur Favorite ist ganz schön weit.“

Jetzt rennen sie, denn beide verspüren ein dringendes Bedürfnis. Sie fliegen über die Brücke zwischen Volkspark und Stadtpark, vorbei am Vogelhaus, aus dem die übliche Kakophonie ertönt, hinunter in Richtung Rhein, erreichen völlig außer Atem die Favorite. Nun wird es höchste Zeit.

Volkspark, Stadtpark, 1970, 4

Nur kurze Zeit später stehen sie am Geländer unterhalb der Favorite und schauen auf den Fluss. Entspannt blinzeln sie in die Julisonne. Hinter ihnen auf den Bänken sitzen ältere Herrschaften und genießen den schönen Tag.

„Ist bisschen wie im Urlaub.“ Bettina wendet ihr Gesicht der Sonne entgegen.

Sie hat recht. Der Mainzer Stadtpark strotzt vor Blumen, ist erfüllt von deren Duft. Bäume flankieren Beete und Wege. Vogelgezwitscher, hin und wieder kurze, schrille Schreie von den Pfauen in den Gehegen weiter hinten. Unter ihnen schimmert der Rhein tiefblau, darauf einige Schiffe – wie Perlen.

„Wie alt wirst du nochmal?“, fällt Bettina ein.

Irritiert sieht Carolin sie an.

„Ich bin ja dieses Jahr zum ersten Mal bei deinem Geburtstag“, beeilt sich, Bettina zu erklären. „ Wir sind zusammen im Minigolfverein, gehen aber nicht in eine Klasse. Ich bin nicht so genau über dein Alter informiert.“

„Ah!“ Das sieht Carolin ein. „Ich werde übermorgen zwölf.“

„Dann bis du 1960 geboren. Das ist praktisch. Da kannst du immer leicht rechnen.“

Darüber müssen beide lachen, wenden sich dann wieder dem idyllischen Bild vor ihnen zu.

„Ebsch Seid“, sagt Carolin verträumt.

„Ja, sieht aber trotzdem schön aus.“

Ein Dröhnen stört die sommerlichen Hintergrundgeräusche. Sie zucken zusammen, sehen sich alarmiert an.

„Da fährt ein Zug über die Eisenbahnbrücke“, erklärt Bettina, geradeso als ob das nötig wäre.

„Da hab ich immer das Gefühl, dass alles in der Nähe irgendwie wackelt.“ Dann fällt Carolin noch etwas ein und sie fügt leiser hinzu: „ Die Brücke finde ich irgendwie gruselig.“

Bettina rückt näher, flüstert ebenfalls: „Wenn man drüberläuft, kann man unten den Rhein sehen. Da wird mir immer schlecht.“

„Noch schlimmer ist es, wenn dann gerade ein Zug drüberrattert. Dann bebt erstrecht alles.“

„Und der Turm am Anfang …“ Bettina reißt die Augen weit auf. „Ich hab früher immer gedacht, dass da etwas ganz Geheimnisvolles drin wäre. Später war ich felsenfest davon überzeugt, dass dort eine Hexe wohnt.“

Das versteht Carolin sofort. Sie sind zwar beide schon fast Jugendliche, aber gruseln können sie sich immer noch. Natürlich kann man das nicht jedem erzählen, ist Vertrauenssache. Carolin denkt noch mit einem wohligen Schauer über Hexen nach, als Bettina ihr lachend auf den Oberarm schlägt.

„Und weißt du was?“ Bettinas Heiterkeit zerstört die schaurig-schöne Stimmung. „Da wohnen ganz normale Leute drin. Und die haben einen Sohn, der ist mit meinem Cousin befreundet.“

Zack – die ganze wohlige Magie ist im Eimer. „Och!“ Mehr kann Carolin dazu nicht sagen. Enttäuscht wendet sie sich wieder dem Rhein zu. Ihr Blick fällt auf die Brücke, die in einiger Entfernung in der anderen Richtung gut zu erkennen ist. „Die Theodor-Heuss-Brücke hat nix Geheimnisvolles“, sagt sie bedauernd.

„Ja, aber weiter hinten, da am Kaisertor, da gab es früher noch eine.“ Wieder macht Bettina große Augen. Ihre Stimme klingt beschwörend.

13522432_257648524591674_1690910848_n„Kaisertor?“ Als Bretzenheimerin kennt Carolin sich nicht ganz so gut aus wie Bettina, die in der Uferstraße wohnt.

„Ja, der Bogen, da unten am Rhein, an der Stelle, wo die Kaiserstraße in die Rheinallee mündet.“

„Ach so.“ Den kennt Carolin. Da gibt es ein Restaurant, das sie zusammen mit ihren Eltern öfter besucht. Dort hat sie erste Lasagne und die erste Cannelloni ihres Lebens gegessen. Am Anfang haben sie und ihre Eltern sich an den ungewohnt heiß servierten Gerichten regelmäßig den Mund verbrannt. Mittlerweile aber wissen sie Bescheid. „ Da ist keine Brücke“, erwidert sie gelangweilt.

„Nein, ich hab doch auch gesagt, dass da mal eine WAR, früher“, erklärt Bettina mit Nachdruck. Es klingt leicht genervt. „ Die haben die Amerikaner nach dem Krieg gebaut. In Kastel sieht man da, wo die Brücke endete, heute noch Gebäude rumstehen, die so aussehen, als wäre da mal so eine Art kleiner Bahnhof gewesen.“

„Wahnsinn!“ Das interessiert sie jetzt aber doch und Carolin nimmt sich vor, ihre Oma danach zu fragen. Die weiß über solche Sachen Bescheid. Also – das mit dieser Brücke nach dem Krieg, kommt ihr auch, irgendwie, geheimnisvoll vor …

 

Geschichten und Erinnerungen von Paula Dreyser.

Paula Dreysers Roman Calling USA überall im Buchhandel, beim VA-Verlag und bei Amazon, dort auch als E-Book. Bewerbung zur Leserunde auf Lovelybooks läuft noch bis 30.6..