(Fotos aus der Sammlung Meikel Mainz: Stadtpark 1972 / Blick auf die Favorite 1970 / Bau der Alexander-M.-Patch-Brücke, 1945)
„Beeil dich, Bettina!“ Ungeduldig trippelt Carolin von einem Fuß auf den anderen. „Ist dringend.“
„Ja, ich versteh schon.“ Bettina legt einen Schritt zu.
Die beiden Mädchen laufen zügig, werden immer schneller.
„Dass es auf dem Minigolfplatz kein Klo gibt, ist echt Mist“, stöhnt Carolin.
„Das kannst du laut sagen. Der Weg zur Favorite ist ganz schön weit.“
Jetzt rennen sie, denn beide verspüren ein dringendes Bedürfnis. Sie fliegen über die Brücke zwischen Volkspark und Stadtpark, vorbei am Vogelhaus, aus dem die übliche Kakophonie ertönt, hinunter in Richtung Rhein, erreichen völlig außer Atem die Favorite. Nun wird es höchste Zeit.
Nur kurze Zeit später stehen sie am Geländer unterhalb der Favorite und schauen auf den Fluss. Entspannt blinzeln sie in die Julisonne. Hinter ihnen auf den Bänken sitzen ältere Herrschaften und genießen den schönen Tag.
„Ist bisschen wie im Urlaub.“ Bettina wendet ihr Gesicht der Sonne entgegen.
Sie hat recht. Der Mainzer Stadtpark strotzt vor Blumen, ist erfüllt von deren Duft. Bäume flankieren Beete und Wege. Vogelgezwitscher, hin und wieder kurze, schrille Schreie von den Pfauen in den Gehegen weiter hinten. Unter ihnen schimmert der Rhein tiefblau, darauf einige Schiffe – wie Perlen.
„Wie alt wirst du nochmal?“, fällt Bettina ein.
Irritiert sieht Carolin sie an.
„Ich bin ja dieses Jahr zum ersten Mal bei deinem Geburtstag“, beeilt sich, Bettina zu erklären. „ Wir sind zusammen im Minigolfverein, gehen aber nicht in eine Klasse. Ich bin nicht so genau über dein Alter informiert.“
„Ah!“ Das sieht Carolin ein. „Ich werde übermorgen zwölf.“
„Dann bis du 1960 geboren. Das ist praktisch. Da kannst du immer leicht rechnen.“
Darüber müssen beide lachen, wenden sich dann wieder dem idyllischen Bild vor ihnen zu.
„Ebsch Seid“, sagt Carolin verträumt.
„Ja, sieht aber trotzdem schön aus.“
Ein Dröhnen stört die sommerlichen Hintergrundgeräusche. Sie zucken zusammen, sehen sich alarmiert an.
„Da fährt ein Zug über die Eisenbahnbrücke“, erklärt Bettina, geradeso als ob das nötig wäre.
„Da hab ich immer das Gefühl, dass alles in der Nähe irgendwie wackelt.“ Dann fällt Carolin noch etwas ein und sie fügt leiser hinzu: „ Die Brücke finde ich irgendwie gruselig.“
Bettina rückt näher, flüstert ebenfalls: „Wenn man drüberläuft, kann man unten den Rhein sehen. Da wird mir immer schlecht.“
„Noch schlimmer ist es, wenn dann gerade ein Zug drüberrattert. Dann bebt erstrecht alles.“
„Und der Turm am Anfang …“ Bettina reißt die Augen weit auf. „Ich hab früher immer gedacht, dass da etwas ganz Geheimnisvolles drin wäre. Später war ich felsenfest davon überzeugt, dass dort eine Hexe wohnt.“
Das versteht Carolin sofort. Sie sind zwar beide schon fast Jugendliche, aber gruseln können sie sich immer noch. Natürlich kann man das nicht jedem erzählen, ist Vertrauenssache. Carolin denkt noch mit einem wohligen Schauer über Hexen nach, als Bettina ihr lachend auf den Oberarm schlägt.
„Und weißt du was?“ Bettinas Heiterkeit zerstört die schaurig-schöne Stimmung. „Da wohnen ganz normale Leute drin. Und die haben einen Sohn, der ist mit meinem Cousin befreundet.“
Zack – die ganze wohlige Magie ist im Eimer. „Och!“ Mehr kann Carolin dazu nicht sagen. Enttäuscht wendet sie sich wieder dem Rhein zu. Ihr Blick fällt auf die Brücke, die in einiger Entfernung in der anderen Richtung gut zu erkennen ist. „Die Theodor-Heuss-Brücke hat nix Geheimnisvolles“, sagt sie bedauernd.
„Ja, aber weiter hinten, da am Kaisertor, da gab es früher noch eine.“ Wieder macht Bettina große Augen. Ihre Stimme klingt beschwörend.
„Kaisertor?“ Als Bretzenheimerin kennt Carolin sich nicht ganz so gut aus wie Bettina, die in der Uferstraße wohnt.
„Ja, der Bogen, da unten am Rhein, an der Stelle, wo die Kaiserstraße in die Rheinallee mündet.“
„Ach so.“ Den kennt Carolin. Da gibt es ein Restaurant, das sie zusammen mit ihren Eltern öfter besucht. Dort hat sie erste Lasagne und die erste Cannelloni ihres Lebens gegessen. Am Anfang haben sie und ihre Eltern sich an den ungewohnt heiß servierten Gerichten regelmäßig den Mund verbrannt. Mittlerweile aber wissen sie Bescheid. „ Da ist keine Brücke“, erwidert sie gelangweilt.
„Nein, ich hab doch auch gesagt, dass da mal eine WAR, früher“, erklärt Bettina mit Nachdruck. Es klingt leicht genervt. „ Die haben die Amerikaner nach dem Krieg gebaut. In Kastel sieht man da, wo die Brücke endete, heute noch Gebäude rumstehen, die so aussehen, als wäre da mal so eine Art kleiner Bahnhof gewesen.“
„Wahnsinn!“ Das interessiert sie jetzt aber doch und Carolin nimmt sich vor, ihre Oma danach zu fragen. Die weiß über solche Sachen Bescheid. Also – das mit dieser Brücke nach dem Krieg, kommt ihr auch, irgendwie, geheimnisvoll vor …
Geschichten und Erinnerungen von Paula Dreyser.
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