Die Magie der Christuskirche und die Faszination der Pinte

Lee Meikel 2

(Foto: Liborio Lee Palermo II, 1976. Bearbeitet von Meikel Dachs)

Samstag, November 1979

„Leute, eigentlich will ich da jetzt gar nicht rein“, erklärte Steffi und drehte sich zu ihren Begleitern um.

Zusammen mit ihren Schulkameraden Peter und Martin stand sie vor dem Eingang zum Coupe 70.

„Frauen!“, stöhnte Martin.

„Hatten wir das nicht gerade am Bahnhof besprochen? Erst Coupe 70, dann in der Pinte vorbei schauen und danach – mal sehen …“ Peter zog die Augenbrauen hoch.

„Ja!“ Steffi betrachtete sich intensiv ihre Fingernägel. „Pinte find ich jetzt aber doch besser.“

„Na gut.“ Martin zuckte die Achseln. „Da wären wir ja sowieso als Nächstes hin.“

„Ja, was soll´s?“ Peter machte auf dem Absatz kehrt.

Sie überquerten die Fußgängerampel an der Kaiserstraße und liefen Richtung Neubrunnenstraße.

„Nicht, dass Frauen oft ihre Meinung ändern würden …“ Martin konnte es nicht lassen.

Steffi ignorierte ihn. Immerhin hatte sie ihren Willen durchgesetzt.

Die Kaiserstraße war durch eine bepflanzte Anlage in zwei Fahrbahnen unterteilt. Zu ihrer Linken erstreckte sich die von Bäumen umgrenzte Grünfläche bis zur Christuskirche. Die Dämmerung setzte gerade ein, an diesem recht milden Novemberabend. Eine Weile blieben sie stehen und betrachteten die Kirche.

„Irgendwie hat der Anblick was Magisches …“, seufzte Peter.

„Sieht toll aus“, bestätigte Martin knapp und zündete sich eine Zigarette an.

„Nicht der Dom, aber sehr schön“, fügte Steffi hinzu.

„Am schönsten sind die Schulgottesdienste am Anfang vom Schuljahr“, feixte Peter.

Sie lachten.

„Gegengewicht zum Dom, sollte sie sein. Also ich weiß nicht“, überlegte Steffi.

„Wie kommst du jetzt auf so was?“ Verwundert blickte Martin zu ihr.

„Wie sprechen gerade in Geschichte darüber.“

Sie schwiegen. Die Kuppel der Kirche wirkte wie ein Tempel. Das hatte was! Einige Passanten verlangsamten ihren Schritt, andere blieben ebenfalls einen Moment stehen.

„Irgendwie gibt es so ein paar Dinge in der Heimatstadt, die einem ans Herz gewachsen sind.“

„Heimatstadt! Mensch, Peter! Du hörst dich an wie mein Opa.“ Martin grinste.

„Ja, aber er hat doch recht.“ Lydia nickte Peter zu.

 

Fünf Minuten später betraten sie die Pinte. Hier herrschte eine andere Art von Magie, die eine andere Art von „Heimatgefühl“ auslöste.

Junge Leute unterhielten sich lärmend an voll besetzen Tischen. Die Bar neben dem Eingang war ebenfalls dicht bevölkert. An der Decke blitzten leere Flaschen, Rauchspiralen hingen wie bizarre Quallen in der Luft, der Zigarettenqualm schmerzte in den Augen.

„Gude!“ „Ihr hier und nicht in Hollywood – grosaadisch!“ „Hallo?“ „Alles klar?“ Das war Heimat pur!

Weiter hinten fanden sie – oh Wunder – einen freien Tisch. „Zwei Cola, ein Pils“, rief Martin gut gelaunt der Bedienung zu.

Peter Maffay seufzte So bist du.

„Was habt ihr eigentlich nach der Schule vor?“, rief Steffi über den Tisch hinweg. Der Geräuschpegel war ziemlich hoch.

„Jura studieren.“ Martin zog die Nase kraus. „Mal sehen, ob es das ist, was ich wirklich will. Isch waas es nidd.“ Seine Zigarette klebte in einem Mundwinkel. Wegen des aufsteigenden Rauches musste er ein Auge zukneifen.

„Germanistik ist für mich auf jeden Fall das Richtige.“

Peters tiefe, volle Stimme brachte Steffi immer noch zum Schmelzen. In der elften Klasse war sie in ihn verknallt gewesen, aber jetzt nicht mehr. „Wir sehen erst mal zu, dass wir unser Abitur hinkriegen“, warf sie ein.

„Ja, Mann.“ Martin stöhnte. „Im April geht es los. Aber danach …“ Er setzte sich gerade hin, legte eine Hand an die Stirn, als wollte er salutieren. “… Dann heißt es: Schlossgymnasium auf Nimmerwiedersehen!“

„Perversiko – uff Ex!“ Am Nachbartisch, den Steffi mühelos anfassen konnte, wenn sie sich etwas vorbeugte und dabei den Arm ausstreckte, warfen drei junge Männer die Köpfe nach hinten und kippten sich Persiko in den Hals.

Peter schüttelte sich. „Koppweh …“

„Männä …“ Der Redner vom Nachbartisch, so um die zwanzig mit aschblonden kinnlangen Locken, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

Steffi erinnerte sich daran, dass er gerade sein Moped vor der Pinte geparkt hatte, als sie gekommen waren. Er gefiel ihr.

„Jetzd bestelle mä Cola-Bieä“, fügte der Blonde hinzu.

Zustimmendes Gemurmel.

„Rischdisch“, erklärte sein Gegenüber, ein drahtiger Dunkelhaariger mit Palästinenser-Tuch um den Hals. „Sunsd see mä die Zahle dobbeld.“

„Des wäer nidd so gud“, pflichtete der dritte im Bunde, ein kleiner Zierlicher in schwerer Lederjacke, bei, während er die Würfel mit einer Hand zusammenschob und in den Becher fallen ließ.

„Würfel-Pasch!“, stellte Martin fest. „Wir könnten auch ein paar Runden spielen.“ Grinsend sah er von Peter zu Steffi.

„Och nee!“ Steffi wehrte ab. Sie hasste es, wenn die Jungs ständig Würfel-Pasch spielten, ein verbreiteter und beliebter Zeitvertreib in der Pinte.

Peter zog die Brauen nach oben, setzte an, um einen Kommentar abzugeben, kam aber nicht dazu.

Weiter vorne in der Nähe der Theke grölte jemand: „Mann, kann mal einer Peter Maffay abdrehen“.

Sofort wurden zustimmende Rufe laut. Kurz danach klangen die ersten Töne von Smoke On The Water durch den Raum, begleitet von beifälligen Kommentaren und vereinzeltem Klatschen. Das Publikum stand eindeutig nicht auf deutschsprachige Musik.

Als wieder etwas Ruhe eingekehrt war, wendete sich Peter an Steffi. „Was machst du nach der Schule?“

„Eine Lehre zur Buchhändlerin.“ Sie griff nach ihren Zigaretten, was ihr einen missbilligenden Blick von Peter einbrachte.

„Wo?“, fragte Peter nach.

„Buchhandlung Krichtel.“

„Sind Buchhändlerinnen nicht so ein bisschen wie graue Mäuse?“ Martin grinste.

Bevor Steffi sich darüber aufregen und ihre Berufspläne verteidigen konnte, schwoll die Geräuschkulisse an. Einige sangen den Refrain des Liedes lauthals mit. Smoke On The Water … Fire In The Sky.

„Ob ´ne Buchhändlerin eine graue Maus ist, hängt ja wohl von der Frau ab“, kam Peter ihr zu Hilfe, als die Sänger verstummt waren. „Dafür sehe ich bei Steffi keinerlei Anzeichen.“

Dafür schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln.

„Jaja, ist klar“, stimmte Martin rasch zu.

„Was würde dich denn interessieren, wenn du dir mit Jura nicht sicher bist?“ Herausfordernd wandte sich Steffi an ihn.

„Politik, die Grünen. Oder ich eröffne einen Buch- und Schallplattenladen. Hätte ich auch Lust zu.“

Grammy in der Augustinergasse ist super.“ Peter wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, um den Rauch zu vertreiben. Für Nichtraucher war der Aufenthalt in der Pinte eine echte Herausforderung.

„Stimmt!“ Martin deutete mit dem Zeigefinger in Peters Richtung.

Wieder wurde es in der Pinte lauter, weil mehrere Leute in den Refrain von Who Are You einstimmten.

Der blonde Mopedbesitzer vom Nebentisch erhob sich, machte sich auf in Richtung Theke, nicht ohne Steffi zuzuzwinkern.

„Du weißt ja Beschied, Karl. Wer hinter die Theke läuft, muss den Jungs und Mädels hinter dem Tresen ´ne Runde Appelkorn ausgeben“, rief der mit dem Paläsinenser-Tuch ihm hinterher.

Nach der kurzen Ablenkung wandte sich Martin wieder seinen Freunden zu. „Wo gehen wir eigentlich später hin? Die Pinte ist ja zum Aufwärmen!“

La Bastille“, erklärte Steffi kategorisch.

„Magisches Dreieck: Goldstein – Orfeo – Terminus!“ Peter nickte bekräftigend.

„Mensch Leute …“ Der Mopedfahrer, erstaunlicherweise bereits zurück von der Theke, blieb kurz stehen, hob den Zeigefinger und grinste. „Vodoo ist angesagt.“

Sie sahen sich an: Ja, warum nicht?

 

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Das Goldstein früher und heute oder – zwei Zigarettenlängen für eine Zeitreise

Bluhm Mainz 2

Wie eigenartig!“ Kopfschüttelnd zieht Katharina an ihrer Zigarette. “So – gepflegt.“

Alle drei schauen sich verdutzt an, bevor sie loslachen.

Hier draußen ist es aber in etwa noch so wie früher, davon abgesehen, dass es keine Bänke und langen Tische mehr gibt. Außerdem ist es natürlich viel ordentlicher und sauberer“, wirft Sophie ein.

Das versiffte Klo ist weg“, meldet sich Paula zu Wort. „Und da drüben, links vom Eingang, wo man auf die Schönbornstraße sieht, standen früher keine Tische. Da lungerten wir herum, versuchten verzweifelt, cool rüberzukommen und glotzten ständig auf die Straße, in der Hoffnung, dass sie endlich auftauchen würden.“

Auf den Gesichtern der drei Frauen breitet sich ein wehmütiges Lächeln aus.

Aber die Kastanienbäume, die Atmosphäre und irgendwie – die Luft … wie früher“, fügt Paula schließlich hinzu.

Na ja, im April riecht es eben schon langsam nach Frühling“, erklärt Sophie grinsend. „Früher gab es hier aber noch ganz andere Gerüche: Bierdunst, Wein, Zigarettenqualm …“

Ja, alle haben geraucht. Kippen waren salonfähig.“ Katharina hält ihre Zigarette hoch und schmunzelt. „Da habt ihr auch noch geraucht und keiner musste nach draußen gehen, um eine zu qualmen.“

 

Am Eingang zum Lokal raschelt es. Sie drehen sich um. Der smarte, grauhaarige Kellner tritt aus dem Restaurant in den Biergarten, setzt sich ganz in der Nähe auf einen Stuhl und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Freundlich nickt er ihnen zu. „Bald können die Gäste draußen sitzen. Letzten Samstag war es so mild, dass einige Herrschaften es ziemlich lange im Freien ausgehalten haben“, sagt er gutgelaunt.

Der Biergarten war eigentlich immer der Renner.“ Paula kann es sich nicht erklären, aber mit einem Mal wird sie redselig gegenüber diesem Fremden. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass sie sich unbedingt näher mit dem Mann befassen sollte. „Wissen Sie, wie es hier im Goldstein zuging, in den späten 70ern, so 76 bis 78?“

Ja, selbstverständlich.“ Der Mann grinst. „Da war hier de Deibel los! Viele Amis. Klasse Musik. Super Stimmung. Gitarrenspieler unter den Kastanienbäumen. Bier aus Flaschen. Klos, die man am besten mit Gummistiefeln betrat. Kult!“ Kurz überlegt er, fügt dann hinzu: „Aber im Vergleich zu den 60ern war es da schon deutlich ruhiger, zumindest was Schlägereien mit Amerikanern angeht.“

Eine Wahnsinnsstimmung, untermalt von Dark Side Of The Moon und 99 Luftballons.“ Sophie verdreht die Augen.

Ground Control To Major Tom.” Katharinas Wangen beginnen, sich zu röten.

Dadada“, japst Paula.

Wenn 500 Miles gespielt wurde, haben die Amis mitgesungen, einige mit Tränen in den Augen.“ Jetzt steht der Kellner auf und gesellt sich zu ihnen.

Die Frauen strahlen ihn an. Alle vier wechseln vielsagende Blicke miteinander. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft, die Gemeinschaft derer, die in ihrer Jugend im Goldstein unterwegs waren. Eine Gemeinschaft auf Zeit, auf sehr kurze Zeit, die aber in diesem Moment, an diesem Ort funktioniert.

Langsam dämmert es. Die Blätter der beiden mächtigen Kastanienbäume, deren Kronen sich wie ein lockeres Dach über den Biergarten wölben, rascheln geheimnisvoll. Oder flüstern sie? Hast du etwas Zeit für mich …

Fast erwartet man, dass junge Leute hereinkommen, um es sich gutgehen zu lassen, trinkend, lachend, rauchend. Take Your Protein Pills And Put Your Helmet On …

Paula stutzt, reibt sich die Augen. Hinter den ordentlichen Tischen und Stühlen auf gepflegtem Kies scheint sich eine Spalte in der Wirklichkeit aufzutun. Sie wird größer und gibt den Blick frei auf einfache Bänke, voll besetzt mit jungen Leuten, Deutschen und Amerikanern, an langen Tischen.

Schon am Kirschgarten war die Musik manchmal zu hören, auf jeden Fall aber dann, wenn man am Bluhm vorbeilief.“ Der Kellner grinst. „Übrigens – ich heiße Paul.“

Paula.“ „Sophie“. „Katharina.“

Man fing an zu schweben, sobald die Musik zu hören war …“

Stimmt, Sophie.“ Katharina lächelt vor sich hin. Alle anderen nicken. „Man war auch irgendwie elektrisiert …“

Peter Frampton!“ Genüsslich bläst Paul den Rauch aus.

Paula kommt es so vor, als wehten Klänge von der anderen Seite des Zeit-Spaltes herüber: Show Me The Way, Everyday …

Songs von Peter, Paul and Mary sind heute noch meine Favoriten“, erklärt Paul. Ganz weich klingt seine Stimme.

Da macht es Klick bei Paula. „Du warst also in den späten 70ern hier? Kannst du – Gitarre spielen?“ Mit einem Mal ist sie sehr aufgeregt.

Das springt auf Katharina und Sophie über. Sie haben eine Ahnung, um was es gehen könnte.

Paul sieht von einer zur anderen, mit gefurchter Stirn, lächelt schließlich. „Ich saß mit meinen Kumpels unter einem der Bäume, spielte Gitarre und wir sangen dazu.“

Ist ja ein Ding!“ Sophie lacht auf.

Hannes Wader …!“ Katharina sticht mir ihrer fast aufgerauchten Zigarette Löcher in die Luft.

„… ja, da war einer dabei, der konnte Hannes Wader gut imitieren“, frohlockt Sophie.

Heute hier morgen dort! Mensch, du warst einer der Typen, die hier Gitarre spielten“, jubelt Paula.

Jetzt ist es so, als würden sie sich schon ewig kennen, seit ihrer Jugend – sozusagen …

Für unsere musikalischen Einlagen gab es freie Getränke vom Wirt.“ Paul genießt die Aufmerksamkeit und Begeisterung seiner neuen alten Bekannten.

Ihr habt auch Lieder von Donovan gesungen und von Bob Dylan.“

Genau, Katharina. Einer meiner Kumpel konnte prima Mundharmonika spielen.“

Knock, knock, kockin´ On Heaven´s Door …”

Erstaunt blicken alle auf Katharina, die sich ganz leicht in den Hüften wiegt und Dylans Hymne vor sich hin summt.

Der Wirt vom Goldstein, den habe ich ein paar Jahre später in der Lebensmittelabteilung der Quelle am Brand gesehen. Das war ganz komisch.“

Ja Paula, das kann ich mir vorstellen. Leute, die zu der Freitag- und Samstagabend-Magie im Goldstein gehörten, im wirklichen Leben zu treffen – merkwürdig.“ Sophie seufzt. „Mann, hier gingen aber auch interessante Typen ein und aus. Gab es da nicht so einen riesigen, immer schwarz gekleideten Mann mit Narben an den Beinen?“

Stimmt!“ Katharina zündet sich direkt die nächste Zigarette an, nachdem sie auch Paul eine angeboten hat, der dankend annimmt. „Es gab Gerüchte darüber, dass der KGB ihn gefoltert hätte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es wurde immer wieder behauptet.“

Betretenes Schwiegen. Auf der anderen Seite der Zeit-Spalte beherrscht ein großer, schwarzgekleideter Mann die Szene.

Drinnen, in der Ecke in der Nähe von dem altmodischen Ofen saß oft ein, na ja, Obdachloser“, fällt Paula ein. „Der hatte Krücken.“

Der Berber-Jupp“, erklärt Paul sofort. „Langer Rauschebart, sprach fließend Französisch, las viel. Wir haben ihm immer mal was zum Lesen mitgebracht, Taschenbücher, Westernhefte. Er mochte alles.“

Er sprach fließend Französisch?“ Das interessiert Katharina.

Er war in französischer Kriegsgefangenschaft gewesen.“

Andächtiges Schweigen folgt. Aus dem Spalt winkt ein ziemlich verwahrloster, bärtiger Mann mit einem Buch: Das siebte Kreuz.

Die Polizei kam ziemlich oft.“

Katharinas Bemerkung bringt Paula irgendwie in Fahrt. „Da mussten Sophie und ich uns verdünnisieren. Wir waren noch keine achtzehn und durften nach 22.00 Uhr gar nicht mehr in Kneipen unterwegs sein.“

Man konnte sich in Richtung Zitadelle verziehen …“

Nee Paul, da guckte die Polizei als Nächstes. Da wurde nämlich gerne was Anderes geraucht als nur Zigaretten …“ Wieder sticht Katharina mit ihrer Zigarette Löcher in die Luft.

Allgemeines Grinsen.

Paula erkennt verschwommen vier GIs in dem Zeit-Spalt. Die jungen Männer stehen schwankend auf einem Tisch, von dem aus sie den Stamm von einem der Kastanienbäume erreichen können. Unter Kichern hieven drei leicht torkelnde Amerikaner den vierten nach oben. Schwerfällig und prustend vor Lachen schafft der es auf den untersten Ast. Guys, I made it!, schreit der im Baum, rutscht sofort nach vorne und schmiert ab – zurück auf den Tisch. Paula überlegt, ob sie diese Erinnerung mit den anderen teilen soll, aber Paul kommt ihr zuvor, mit einem gänzlich anderen Thema.

Auch der Erwin war manchmal hier.“

Erwin Tinz, oder?“ Katharina furcht die Stirn. Sie und Paul nicken sich zu, als würden sie ein Wissen teilen.

Klärt ihr uns auf?“ Ungeduldig zuckt Sophie mit den Schultern.

Ein bekannter Stadtstreicher, ein Mainzer Original. War dafür bekannt, dass er zeitweilig aggressiv wurde. Dann hat er auch schon mal die Leute vor dem Theater angepöbelt. Er fiel dadurch auf, dass er sein Zeug in einem Kinderwagen oder Einkaufswagen durch die Gegend fuhr …“

Als Paul eine Pause macht, übernimmt Katharina: „Polizisten sammelten ihn ein, im Dezember, als er wieder mal krakeelte und randalierte. Dann fuhren sie ihn nach Nackenheim in die Weinberge und setzten ihn aus. Da starb er an Herzversagen.“

Betroffene Gesichter. Die Leichtigkeit des Augenblicks verfliegt.

Ja, darüber gab es sogar einen Artikel im Spiegel“, sagt Sophie leise. „Aber das war nach unserer Goldsteinphase …“ Sie wirft erst Paula, dann Katharina einen vielsagenden Blick zu. „… Das ist 1980 passiert, kurz vor oder nach dem Mord an John Lennon.“

Schweigen. Die Zeitreise endet. Die Gemeinschaft beginnt, sich aufzulösen.

Paulas Spalte wird dunkel und schließt sich. Die Erinnerungen ziehen sich zurück wie Rauchschwaden. Was bleibt ist das Goldstein im Jahre 2015 – ein gepflegtes Lokal mit Biergarten in der Mainzer Altstadt.

Schlimme Sache …“ Paul drückt seine Zigarette an einem großen Blumentopf aus, wirft die Kippe aber nicht weg. „Ladies, es war mir eine Freude, aber jetzt muss ich wieder an die Arbeit.“

Ja, wir gehen auch wieder rein. So lange wollten wir gar nicht draußen bleiben“, sagt Sophie.

Wir brauchten halt zwei Zigarettenlängen…“ Katharina grinst.

„…für unseren kleinen Ausflug in die Vergangenheit.“

Nach Paulas Schlusswort gehen sie zurück ins Lokal, in guter, aber auch etwas wehmütiger Stimmung. Ja, wie man es auch dreht und wendet, es hat sich so einiges verändert …

Die Blätter wispern: Und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt wie es war …

 

(Geschichten aus Mainz, früher und heute, von Paula Dreyser. Mit Dank an die Mitglieder verschiedener Facebook-Gruppen, die ihre Erlebnisse und Erinnerungen an das Goldstein mit mir geteilt haben.)

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