Café Maldaner: stimmungsvolles Ambiente gestern wie heute oder – So nah und doch so fern

90er

Leseprobe aus dem laufenden Romanprojekt „Woodstock ist nicht alles …“(Arbeitstitel) von Paula Dreyser / Orte der Handlung: Wiesbaden, Schlossplatz und Marktstraße vor dem Café Maldaner / Zeit: Juni 1992

Die Marktkirche ist schön. Olivia legte den Kopf in den Nacken und folgte mit den Augen der Linie des gotischen Turms, der trotzig in den blauen Sommerhimmel stach. Nicht so imposant wie der Mainzer Dom, aber immerhin.

Langsam schlenderte sie weiter, träumte vor sich hin. Schmunzelnd erinnerte sie sich an die „traditionell schwierige“ Beziehung zwischen Mainzern und Wiesbadenern.

In ihrer Kindheit und Jugend war das immer wieder Thema gewesen, besonders bei den älteren Leuten. An der Mainzer Uni hatte sie sich allerdings ausgerechnet mit einer Wiesbadenerin angefreundet. Christiane hatte wie sie mit Anfang dreißig noch ein Studium der Kunstgeschichte begonnen.

Erstaunt stellte sie fest, dass sie ihr Ziel bereits erreicht hatte. Ich könnte hineingehen. Unschlüssig stand Olivia vor dem Maldaner. Sie liebte dieses Café: die lange Theke mit Kuchen- und Tortenköstlichkeiten unter Glas; die glitzernden Flaschen, schimmernden Porzellangefäße und Gerätschaften rund um die Zubereitung von Kaffee in den Regalen. Jetzt an einem der kleinen, runden Tische oder auf einem Plüschsofa sitzen bei Kaffee und Kuchen, umgeben von Kostbarkeiten, mit einem Hauch von Kaiserzeit und Kaffeehauskultur – das wäre wunderbar. Sie könnte an ihrer Skizze der Marktkirche weiter arbeiten.

Eine Weile noch betrachtete sie die Menschen, die in der Marktstraße unterwegs waren. Viele von ihnen waren auffallend gut gekleidet, offensichtlich Leute mit Geld.

Sie genoss diesen Moment. Bis jetzt war es ein guter Tag gewesen, sonnig, angenehm warm … und Prof. Bauer hatte ihre Mappe Kirchen in Mainz und Wiesbaden gelobt.

Und dann geschah es! Von einer Sekunde zur nächsten veränderte sich ihre Stimmung. Die innere Ruhe und das behagliche Gefühl verflüchtigten sich. Warum? Aus einem der Geschäfte drang Musik an ihre Ohren: So Darlin´, Darlin´ Stand, By Me …

Die Marktstraße mit ihrem modernen Ambiente verwandelte sich. Es war so, als würde sich etwas verschieben. Die Gebäude sahen jetzt etwas älter aus, weniger Leuchtreklamen funkelten, die Menschen waren altmodischer gekleidet; Schlaghosen, große Kragen über knappen, gemusterten Pullovern, Plateauabsätze. Und dort drüben – eine Telefonzelle.

Ein GI, schlank und hochgewachsen, blond, mit kantigem Gesicht, ein ironisches Lächeln um den Mund und ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen, einige Jahre jünger als er, schlenderten gemächlich die Marktstraße entlang, direkt auf den Maldaner zu. Sie hielten sich an den Händen, unterhielten sich angeregt. Das junge Mädchen blieb immer wieder stehen, wendete sich dem Mann zu, sah zu ihm auf, gestikulierte leidenschaftlich mit der freien Hand. Die Nähe zwischen den beiden schaffte eine durchsichtige Glocke, die sie umgab und vom Rest der Welt abschnitt. If the sky that we look upon … Die beiden kamen näher, gingen an Olivia vorbei in den Maldaner.

Die Zeit sprang wieder nach vorn, rastete ein im Hier und Jetzt. Die Straße präsentierte sich bunt und modern. Alles war so, wie man es heutzutage im Einkaufszentrum einer größeren Stadt erwartete.

Olivia fühlte sich so merkwürdig, dabei so einsam, dass sie gerne losgeheult hätte. Die Luft blieb ihr weg. Sie konnte nicht mehr schlucken. Ich werde doch jetzt nicht hyperventilieren! Sie zwang sich, den Atem anzuhalten, beruhigte sich langsam. Ich sollte hineingehen …

Gerade als sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, hörte sie einen Schrei und einen lauten Knall. Ihre Hand zuckte zurück.

 

Alex liebte dieses Café. „Vielen Dank!“ Er zwinkerte der hübschen jungen Bedienung zu, ein zierliches Mädchen mit grünen Augen.

Die junge Frau servierte ihm Apfeltorte mit Sahne zu einem Kaffee. „Bitte schön“, sagte sie schlicht, entfernte sich, flink und anmutig.

Sie erinnerte ihn an ein anderes deutsches Mädchen, dass er vor vielen Jahren gekannt hatte, während seiner ersten Stationierung in Deutschland. An die Zeit als Pilot dachte er gerne zurück. Good old days. Er gestattete sich ein kurzes Abtauchen in vergangene Zeiten. In Olivia war er sehr verliebt gewesen. Aber sie schafften es nicht, zueinander zu kommen. Was, wenn es ihnen gelungen wäre? Wie hätte sich das auf seinen Lebensweg, seine Karriere ausgewirkt? Er seufzte. Ich wäre vielleicht genau da, wo ich heute bin, wäre nach einem langen, erfolgreichen Militärdienst strategischer Berater für die Air Force. Die Erinnerung begann zu schmerzen. Sie war klug. Sie hätte es verstanden, wenn, ja, wenn was?  – Wenn ich mir mehr Mühe gegeben hätte …?

Tief in Gedanken versunken stach er etwas zu heftig in seinen Kuchen. Als er die Gabel in den Mund schieben wollte, hörte er von draußen einen Knall und zuckte zusammen. Irritiert blickte er auf. Ob ich nachsehen soll, was da los ist?, fragte er sich im Stillen. Sein Herz begann, heftig zu klopfen und er spürte ein merkwürdiges Ziehen im Brustkorb. Er stand auf.

Sofort erschien die junge Kellnerin an seinem Tisch, sah ihn fragend an, mit hochgezogenen Brauen. „Alles in Ordnung?“ Ihre grünen Augen glitzerten. Jetzt lächelte sie, freundlich, aber auch ein klein wenig herausfordernd.

„O ja“, entgegnete Alex und setzte sich wieder hin. „Alles bestens.“

(Foto aus der Sammlung Meikel Mainz, veröffentlicht am 04.02.2016 auf Facebook, „Echte Wiesbadener“)

Bereits erschienen von Paula Dreyser: „Calling USA“, Roman über eine „deutsch-amerikanische“ Beziehung im Mainz der späten 70er-Jahre. Überall im Buchhandel oder beim VA-Verlag. Auf Amazon auch als E-Book. Mehr über Paula Dreyser auf der Webseite und auf  Facebook 

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Nostalgie auf dem Rebstockplatz oder – Erinnerungen an einen Einkaufswagen

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Foto aus der Sammlung von Meikel Dachs.

 

Wie schade! Da waren früher das Rex – und das Bambi. Ich erinnere mich an eine Ferienvorstellung Anfang der siebziger Jahre. Einer meiner Schulkameraden aus der Anne-Frank-Schule kam an günstige Eintrittskarten, weil seine Mutter im Kino arbeitete, und lud mich ein.

Ein Ausflug „in die Stadt“ zum Kinobesuch – das war schon was, damals. Gezeigt wurde ein zweit- oder drittklassiger amerikanischer Film über Atlantis: Ein armer griechischer Fischer rettete eine wunderschöne Frau vor dem Ertrinken. Bald stellte sich heraus, dass sie eine atlantische Prinzessin war. Blind vor Liebe brachte er sie zurück in ihr Reich. Das sagenhafte Atlantis entpuppte sich als teuflisch in jeder Hinsicht: Sklaverei; Menschen, die in Tiere verwandelt wurden; gottlose Herrscher … Zum Schluss versank die Insel mit ihren ungläubigen, dekadenten Bewohnern in den Fluten des Meeres, so wie es sich gehört.

Ich drehe mich um und mein Herz geht auf – der Dom. Mein Blick fällt auf den West-Chor, den neueren Teil, nicht den Ost-Chor; das ist der ältere Teil, auf der anderen Seite, Richtung Fischtorplatz. Seit ich denken kann, hat man mir das eingebläut. Als Bretzenheimerin lebte ich ja nicht wirklich im Schatten des Doms, aber bei dem gleichnamigen Lied fühle ich mich angesprochen, besonders an Fassenacht.

Der Martinsdom! Der Dom zu Mainz! So prägend wie Fleischwurst und Paarweck, Krebbel, das Sandmännchen, „die Elektrische“, alte Frauen in Kittelschürzen, Astrid Lindgren, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Johannisfest, The Who, Augustinerkeller, Goldstein und La  Bastille …

In nostalgischer Stimmung setze ich meinen Weg fort Richtung Brand. Ich war ein Schulkind, als das Einkaufszentrum erbaut wurde – was war davor an seiner Stelle? Keine Ahnung. Als ich an der Allgemeinen Zeitung vorbeigehe, bleibt mein Blick an einem Muster im Boden auf dem Platz vor mir hängen. Zunächst sieht es aus wie ein Kreis, bei näherem Hinsehen entpuppt es sich aber als Oktagon. Ich stelle mich neben die Linie und sehe im Geist den Brunnen, der hier einmal gestanden hat, der Brunnen mit dem Perpetuum Mobile.

Auf einmal möchte ich heulen. Warum? Weil der Brunnen nicht mehr da ist, genauso wie die alte Lotharpassage mit Woolworth oder die Nordsee an der Ecke Große Bleiche / Große Langgasse. Matjeshappen gibt es noch in der Nordseefiliale in der Schusterstraße, „Hot Haps“ aber nicht mehr. Solche Fischspezialitäten brachten meine Eltern vom samstäglichen Einkauf aus der Stadt mit nach Hause. Das war für mich so lange der Knüller, bis ich Anfang der Siebziger meine erste Pizza aß. Damit waren die Nordsee-Spezialitäten out. Etwas später lernte ich Lasagne und Cannelloni kennen. Da wusste ich dann endgültig Bescheid …

Nur wenige Leute sind an diesem Mittwochvormittag unterwegs. Gedankenverloren lasse ich meinen Blick schweifen, folge der Treppe zum Brand, bleibe an der Schräge für Rollstuhlfahrer, Radfahrer, Kinderwagen und Skateboard-Fahrer hängen. Der Anblick dieser Schräge macht mich glücklich, erhöht meinen Herzschlag für einen Moment. Im Geiste sehe ich einen Einkaufswagen dort oben stehen, auf dem Scheitelpunkt sozusagen.  – Ich möchte lachen und nicht mehr aufhören.

Meine Umgebung einschließlich der wenigen Passanten, die sich über die Frau vor der Treppe mit diesem eigentümlichen Lächeln vielleicht wundern, rückt in weite Ferne, während ich abtauche in eine andere Zeit.

Mainz im Frühsommer 1976: Hinter mir und meiner Freundin Sophie – das mit Wasser gefüllte Becken des Brunnens. Das Perpetuum Mobile gibt seltsam scharrende Geräusche von sich, während es sich um seine eigene Achse dreht.

Wir sitzen auf dem Brunnenrand, starren fasziniert auf das, was sich am höchsten Punkt der Schräge in Richtung Brand gerade tut. Immer mehr Passanten bleiben in unserer Nähe stehen, einige setzen sich ebenfalls auf den Brunnenrand. Alle warten darauf, wie es weitergeht.

„Die Amis“, sagt ein älterer Herr freundlich, schüttelt dabei lachend den Kopf. „Was deene so alles eufelld!“

„Mama, guck doch!“ Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen deutet aufgeregt auf die drei GIs, die dort oben einen leeren Einkaufswagen festhalten und sich anscheinend angeregt unterhalten. Einer hebt grüßend die Hand, winkt uns Zuschauern elegant zu, in der Art der Queen.

Drei junge Männer, die neben uns stehen, langhaarig, mit Peace-Buttons an den Palästinenser-Tüchern, winken zurück, lachen sich kaputt. Schließlich tut sich oben etwas.

„Das machen die doch nicht wirklich?“ Sophie stößt mir sachte den Ellenbogen in die Seite. Wir sehen uns an, ungläubig, lachen dann schallend los. Doch, natürlich machen die das! Wir kennen sie, unsere GIs.

Einer der Amerikaner klettert geschickt in den Einkaufswagen, während seine Kumpel das Gefährt festhalten.

„Was mache se dann jetzd?“ Der ältere Herr grinst über das ganze Gesicht.

„Verrückt!“ Ein Peace-Button-Träger zündet sich eine Zigarette an, eine HB. Dann wedelt er damit herum und tänzelt ein wenig hin und her, ungefähr wie Bruno, das HB-Männchen.

Mittlerweile hat sich der GI in den Einkaufswagen gequetscht, streckt den Kopf nach vorne und schreit: „Right on.“

Seine Freunde geben dem Wagen einen Stoß und los geht es! Durch den Fahrtwind stellt sich seine blonde Stirntolle nach oben. Das Gefährt rollt die Schräge hinunter, nimmt ordentlich Fahrt auf.

Unter Lachen und Klatschen erreicht der Amerikaner in seinem ungewöhnlichen Fahrzeug das untere Ende der Schräge. Die Fahrt währte nur kurz. Jetzt hat er keine Möglichkeit zu bremsen, ist sozusagen ausgeliefert. Durch ruckartige Bewegungen mit dem Körper versucht er, nach links zu lenken.

Die drei Peace-Button-Träger eilen herbei, halten den Wagen fest. Auf diese Weise gestoppt, dreht das Fahrzeug langsam eine elegante Kurve und kommt vor dem Eingang vom Café Dinges zum Stehen.

„Des glaabd mä konä!“ Wer hat das gesagt? Der ältere Herr, der sich königlich amüsiert.

„Thank you!“ ruft der GI seinem fröhlichen Publikum zu, während seine neuen Freunde ihm heraushelfen. Schulterklopfen, Händeschütteln, Wortfetzen von dort drüben: „Nice to meet you!“ … „Hey, folks!“ … „Let´s go!“ … Einer der Deutschen schiebt den Wagen über die Schräge nach oben, die anderen trotten hinterher, unterhalten sich lachend miteinander und mit den Passanten.

„ Was machd ihr donn fä Sache!“ „Menschenskinnä, dess omm frije Moije.“

Oben angelangt gibt es wieder Schultergeklopfe. Als nächster steigt ein Peace-Button-Träger ein und rollt unter Gejohle nach unten. Allerdings verliert sich sein fröhlicher Gesichtsausdruck mit zunehmender Geschwindigkeit. Am Ende ist er sehr erleichtert, als Passanten ihm beim Parken helfen …

Die Szene verschwimmt. Ich bin zurück. Kein Brunnen, keine lachende Menschenmenge, kein Einkaufswagen, keine GIs – aber der Dom, der West-Chor, versteht sich.

Webseite

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