Es war einmal: Öffentliche Telefonzellen oder – etwas Privatsphäre unter schwierigen Bedingungen

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Leseprobe aus Calling USA von Paula Dreyser / Cover für die 2. AuflageFotos: Minya Backenköhler, Mainz; Fotolia, Urheber psdesign1 (57908455) und fotomek (54212049 + 96845895)

Mainz im August 1977

Die siebzehnjährige Schülerin Lydia „geht“ seit etwa zwei Monaten mit Steve, einem zwanzigjährigen GI. Lydias Eltern wissen noch nichts davon. Mit ihrer Freundin und Vertrauten Steffi sucht sie eine Telefonzelle auf, um Steve in den Lee Barracks anzurufen.

Ort des Geschehens: Telefonzelle in Mainz-Bretzenheim, Bahnstraße vor der Reinigung

 

„Mann.“ Steffi konnte es nicht fassen. „Keine Schlange davor.“

Lydia öffnete die Glastür der Telefonzelle und hielt sie einen Moment fest, damit die Kabine wenigstens etwas auslüften konnte. „Ist eigentlich nur selten der Fall, dass ich hier warten muss, höchstens mal am Wochenende. Aber an einem Donnerstagnachmittag wie heute ist damit nicht zu rechnen“, erklärte sie.

„Bei den Telefonzellen am Neubrunnenplatz oder in der Nähe vom La Bastille, die ich meistens benutze, ist das anders.“ Steffi stöhnte. „Ist fast immer jemand drin. Wenn ich am Wochenende telefonieren will, stehen regelmäßig mehrere Leute davor.“ Zögernd betrat sie den engen Raum und schaute sich vorsichtig um. „Die sind auch viel dreckiger als diese.“ Sie schnüffelte. „Stinkt hier auch nicht so.“

Lydia folgte ihr, was nicht ganz einfach war, denn die Falttür öffnete nach innen. Bis sie wieder zufiel, war der ohnehin begrenzte Platz noch spärlicher. Wollte man zu zweit hinein, musste man sich reinquetschen.

Sie atmeten auf, als die Glastür hinter ihnen wieder zugefallen war, obwohl dadurch die Luftzufuhr fast abgestellt wurde.

„Ja, in der Stadt gibt es ein paar, die sehr übel sind.“ Lydia legte ihre Tasche auf die Ablage, unter der die Telefonbücher hingen. „Wieso läufst du so weit? Ich kann ja verstehen, dass du das Telefonhäuschen in der Leibnizstraße nicht benutzen willst. Da könnten deine Eltern vorbeikommen und misstrauisch werden, aber in den Seitenstraßen gibt es doch bestimmt auch welche.“

Steffi lehnte sich gegen die Glaswand. „Sonntags gehe ich manchmal raus, weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Ist Zeitvertreib, durch die Stadt zu laufen und eine Telefonzelle zu suchen. Die in der Nähe vom La Bastille gefällt mir am besten. Irgendwie fühle ich mich da gut und …“ Sie zuckte die Schultern. „… sicher.“

Lydia nickte. Die Diskothek war das Zentrum ihres Mikrokosmos, in dem sie sich frei und gleichzeitig geborgen fühlten.

„Mach jetzt!“ Steffi nahm den Hörer ab und hielt ihn Lydia ans Ohr.

„Alles klar, es tutet in der Leitung, der Apparat ist nicht kaputt. Lass uns die Zehner zählen.“

Sie nahmen alle Zehnpfennigstücke aus ihren Geldbörsen und legten sie auf die Ablage neben die Taschen.

„Zehn, eine Mark, das dürfte reichen.“ Lydia atmete tief durch.

„Lass uns noch eine Mark als Reserve dazulegen.“ Steffi war gründlich.

Eigentlich kostete ein Ortsgespräch nur zwanzig Pfennige, aber man wusste nie, wie viele Zehner durchfielen, ohne dass man den Grund dafür erkennen konnte. Manchmal schluckten die Telefone auch mehr Geld, die Ursache dafür blieb ebenfalls ein Geheimnis.

In der Kaserne anzurufen verursachte immer Stress. Sich dafür mit einer Freundin zusammenzutun, war ein beliebtes Vorgehen. Sie fühlten sich auf diese Weise nicht so allein und mutiger, gleichzeitig regten sie sich aber gegenseitig noch mehr auf.

Bisher lief für Steffi und Lydia alles sehr gut. Auf Anhieb hatten sie eine leere Telefonzelle in vernünftigem Zustand gefunden und verfügten über ausreichend Geld. Der Apparat schien zu funktionieren. Genau würden sie das aber erst wissen, nachdem sie die Wählscheibe bedient hatten.

An diesem nur mäßig warmen Augusttag waren die klimatischen Bedingungen in der Kabine vergleichsweise günstig. Trotzdem begannen sie zu schwitzen. Drei Seiten der Zelle bestanden aus Glas, eingefasst in breite, leuchtend gelbe Stahlblechstreifen. An der einzigen Stahlwand gegenüber der Tür hing das Telefon und rechts daneben etwas weiter unten eine Vorrichtung für die Bücher. Die Sonne hatte den Innenraum natürlich aufgeheizt. Die kurze Stoßlüftung wirkte sich nur für einen Moment aus, bis ihre Wirkung komplett verpuffte. Durch die aufkommende Hitze machten sich all die Düfte nach und nach bemerkbar, die permanent im Inneren schwelten, kalter Zigarettenrauch, Schweiß, Parfum und einige undefinierbare Duftnoten, eine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Mischung.

„Patchouli!“ Lydia stöhnte, während sie aufgeregt in ihrer Umhängetasche nach dem Zettel mit der Telefonnummer suchte.

„Ist fast so schlimm wie Moschusöl.“ Steffi schluckte schwer. Dann starrte sie erstaunt auf das Stück Papier. „Weißt du die Nummer nicht auswendig?“

„Doch, aber ich fühle mich besser, wenn ich für den Notfall einen Spickzettel habe.“ Lydia spürte Schweißtropfen auf ihrer Stirn. „Mir wird manchmal beim Wählen für einen Moment schwarz vor Augen.“

„Kenn ich.“

Die Kombination aus Gestank, Wärme und Aufregung schlug schnell auf den Kreislauf. Steffi stöhnte und öffnete die Tür. Im Kontrast zu der abgestandenen Luft war das, was jetzt hereinströmte, frisch. Sie atmeten auf.

Als Leute vorbeigingen, schloss Steffi die Tür wieder. „Los jetzt! Mach schon!“

Lydia zitterte. Sie hatte schon früher in der Kaserne angerufen, aber dies war das erste Mal, dass es um Steve ging. Telefongespräche in die amerikanische Kaserne waren immer spannend, konnten sich geradezu dramatisch gestalten und ausarten. Eine entscheidende Rolle für den Ablauf des Geschehens spielte derjenige, der gerade Telefondienst hatte, der CQ, Charge of Quarters.

„Mensch Lydia, beeil dich, mir ist schon flau.“ Steffis Gesichtsfarbe veränderte sich.

„Ich kann noch nicht.“ Lydia stöhnte. „Eine Zigarette würde helfen, nur ein paar Züge.”

“Spinnst du, wir können in diesem Käfig doch jetzt nicht rauchen.” Steffi tippte sich an die Stirn.

“Wir rauchen draußen. Sollte jemand kommen, gehen wir schnell wieder rein.“

Steffi überlegte kurz, dann nickte sie. “Okay.“

Sie stießen die Tür auf, schlängelten sich nach draußen, zündeten eine Kool für beide an und zogen abwechselnd daran.

„Wenn mir jetzt der CQ erzählt, dass Steve mit einer anderen unterwegs ist, fahre ich sofort in die Barracks.“ Lydias Nervosität nahm zu.

„Da kommst du ja nicht rein.“ Steffi nahm die Zigarette und zog genussvoll.

„Manchmal geht es. Jemand muss für dich bürgen oder so ähnlich.“

In diesem Moment bog ein älterer Herr um die Straßenecke und spazierte gemütlich, aber zielstrebig auf die Mädchen zu. Steffi ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und huschte hinter Lydia in das Häuschen. Der an ihnen haftende Rauch hing sofort wie eine übelriechende Wolke in der Kabine. Seelenruhig ging der Herr außen vorbei. Entgeistert sahen sie sich an, um dann leicht hysterisch loszulachen. Bis sie sich beruhigten, dauerte es eine Weile.

„Los jetzt“, japste Steffi, nahm den Hörer ab, reichte ihn Lydia und warf das erste Zehnpfennigstück in den dafür vorgesehenen Schlitz. Sie lauschten aufmerksam, andächtig. Die Münze blieb im Apparat, es hatte funktioniert. Die Nächste fiel allerdings durch.

„Mist!“ Steffi versuchte es wieder. Nach zwei weiteren Fehlschlägen blieb der Zehner im Kasten.

Mit zittriger Hand wählte Lydia sorgfältig eine Ziffer nach der anderen, während sie den Hörer ans Ohr hielt. Bei der vorletzten Zahl drehte sie die Scheibe nicht weit genug, sodass die Verbindung unterbrochen wurde. Lydia gab einen undefinierbaren, kläglichen Laut von sich.

„Oh!“ Steffi, mittlerweile kreidebleich im Gesicht, öffnete schnell die Tür und stellte sich dicht an den Spalt.

Wieder wählte Lydia, konzentrierte sich dabei so stark, dass sie einen Druck auf der Stirn verspürte. Diesmal klappte es. Aus dem Hörer tönte auch kein Besetztzeichen. Die Leitung war frei. Sie nickte Steffi zu, die wieder etwas Farbe im Gesicht hatte.

Am anderen Ende der Leitung nahm jemand den Hörer ab. „A Company, Fourth of the 69th Armor, Specialist Harrison speaking. How can I help you?”

“May I please talk to Private Gardner?” Lydias Stimme klang erstaunlich fest.

“Let me see, Mam. Just a moment.“ Der Soldat hielt den Hörer jetzt wohl zur Seite und sagte etwas, was Lydia nicht verstand.

Steffi blickte sie mit großen Augen erwartungsvoll an.

„Er spricht mit jemandem“, flüsterte Lydia. Die Anspannung, unter der sie stand, steigerte sich ins Unerträgliche.

Steffi stellte sich jetzt direkt neben sie und hörte mit. Es knackte. Am anderen Ende der Leitung wurde gesprochen, gelacht. Wortfetzen waren zu verstehen: Lady, Gardner, shower. Wie von der Tarantel gestochen fuhren sie auf und warfen sich einen alarmierten Blick zu. Shower, das absolute Unwort bei einem Gespräch mit dem CQ. Als Nächstes würde der diensthabende Soldat behaupten, dass Steve unter der Dusche stünde, was meistens bedeutete, dass er keine Lust hatte, jemanden nach ihm zu schicken. Würde Lydia in einer halben Stunde anrufen, bekäme sie höchstwahrscheinlich die gleiche Antwort.

Wieder knackte es. Dann war ein Rascheln zu hören. Jemand lachte. Worte fielen: girl, nice voice, downtown, La Bastille. Dann entstand eine Pause. Der Moment dehnte sich aus, dauerte ewig.

Lydia kam ein absurder Gedanke. Die Zeit in der Telefonzelle verstreicht für uns langsamer als außerhalb im richtigen Leben, genau wie bei der Besatzung der Enterprise, wenn sie durch ein Schwarzes Loch fliegt. Gerade als sie Steffi das erzählen wollte, erklang Steves Stimme gut gelaunt aus dem Hörer. „Hey Babe.“

Vor Erleichterung wurde ihr schwindlig.

Auch Steffi strahlte. Sie lächelte Lydia zu, bevor sie nach draußen ging. Das gehörte zum Verhaltenskodex.

 

„Calling USA“, Roman von Paula Dreyser, eine „deutsch-amerikanische“ Geschichte im Mainz der späten 70er-Jahre

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