Gedanken zu Lee Barracks, RAF und Lili Marleen im Terrorherbst 1977

mike kopie

Titelfoto von Michael Ciaccio, ca. 1976. Aufnahme von „Innen“

Leseprobe aus Calling USA von Paula Dreyser

Nach der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut am 13. Oktober 1977 steht die Bundesrepublik unter Schock. Die siebzehnjährige Schülerin Lydia „geht“ seit einer ganzen Weile „fest“ mit Steve, einem zwanzigjährigen GI. Am Freitag, dem 14. Oktober 1977 wartet sie vor den Lee Barracks in Gonsenheim auf ihn.

Personen: Lydia und Steve, Ellen (Lydias beste Freundin) und Ben (Steves Kumpel)

Orte des Geschehens: Lee Barracks, Gasthaus Zur Krimm

 

Freitag, 14. Oktober 1977

Um irgendetwas zu tun, warf Lydia ein Zehnpfennigstück in den knallroten Automaten und drehte den Hebel. Außer einer giftgrün gefärbten Kaugummikugel fiel ein billiger Blechring mit herzförmigem, rosa Glitzerstein in das Fach. Klasse, ein Hauptgewinn. Früher war ich ganz wild auf diesen Kram.

Während sie die klebrige Kugel in den Mund schob, trat sie von der Straße zurück und stellte sich neben den Eingang der kleinen, bei den GIs sehr beliebten Pizzeria. Von ihrer Position aus hatte sie den Haupteingang zur Kaserne im Visier, stand aber nicht völlig auf dem Präsentierteller für die Soldaten, die auf ihrem Weg zur Straßenbahnhaltestelle an ihr vorbeiliefen. Einige waren allein unterwegs, viele zu zweit oder in kleinen Gruppen. Lydia fühlte sich frei. Ihr Herz nahm an Volumen zu, dehnte sich erwartungsvoll diesem Freitagabend entgegen. Die Peter-Stuyvesant-Reklame mit dem Bild der Freiheitsstatue und dem Spruch vom Duft der großen weiten Welt fiel ihr ein.

Die meisten Soldaten bemerkten sie trotzdem, viele lächelten ihr zu. Fehlt nur noch Lili Marleens Laterne, an die ich mich lehnen könnte.

Sie warf einen hastigen Blick auf ihre Armbanduhr, sieben Uhr. Komm doch! Als sie wieder aufsah, schlenderte Steve gerade durch das Tor. Er müsste eigentlich rennen. Vor Aufregung bekam sie feuchte Hände. Instinktiv, ohne vernünftigen Grund, trat Lydia einen Schritt zurück, um sich hinter der Hauswand zu verstecken. Ein geradezu wohliger Schauer kroch ihren Rücken entlang. Wie im Kitschroman, total albern.

Steve winkte dem Soldaten im Wachhäuschen und steuerte geradewegs auf sie zu. Er wusste genau, wo sie auf ihn warten würde.

Lydia fühlte sich um ihren Spaß betrogen, spuckte den Kaugummi aus und trat wieder nach vorn.

„Hey Babe.“ Da war es wieder, sein unbeschreibliches Lächeln. Das ist meiner! Bei diesem Gedanken triumphierte sie innerlich, begann zu zittern, nicht vor Angst oder Kälte, sondern als Ausdruck eines zutiefst empfundenen Behagens. Das hier ist richtig!

„Hey.“

Sie umarmten und küssten sich. Lydia schmiegte sich an ihn. Irritiert und etwas ungehalten nahm sie zur Kenntnis, dass Steve gleich wieder von ihr abrückte.

„Lass uns ins Gasthaus an der Krim gehen“, sagte er. Samtiges Braun und schillerndes Grün. Lydia schwebte.

„Ben und deine Freundin sind schon dort.“

Ja, das wusste sie. Ben und Ellen verstanden sich gut, waren heute zusammen in der PX gewesen. Hand in Hand machten sie sich auf den Weg.

„Wie geht es so? Irgendetwas Besonderes passiert seit letztem Mittwoch?“, fragte er leichthin.

Abrupt blieb sie stehen, aus luftigen Höhen gefallen und knallhart in der Realität zurück. Fassungslos starrte sie ihn an. Ob irgendetwas passiert war? „Eine Lufthansamaschine wurde gestern von Terroristen entführt.“ Es klang wie ein Vorwurf.

Seit dem Nachmittag des Vortages berichteten die Medien davon. Das Thema beherrschte nicht nur Funk und Fernsehen, sondern auch die Gespräche der Menschen. Die Ereignisse hatten auch Lydia erreicht, die ansonsten fast alles, was außerhalb ihres deutsch-amerikanischen Mikrokosmos passierte, nur am Rande zur Kenntnis nahm. Und Steve wollte wissen, ob es etwas Besonderes gäbe? Auf welchem Stern lebte er?

Fragend zog er die Augenbrauen nach oben. „Davon habe ich nichts gehört“, antwortete er mit einem unergründlichen, merkwürdig verschlossenen Gesichtsausdruck.

Lydia traute ihren Ohren nicht. „Hast du mitgekriegt, dass die RAF einen wichtigen Mann der deutschen Wirtschaft entführt hat?“

„Nein.”

“Den Namen Schleyer schon mal gehört?”

Langsam schüttelte er den Kopf. Kaum merklich fror seine Mimik ein. „Wieso redest du in diesem aggressiven Ton mit mir? Was soll das werden, ein Verhör?“

Lydia schluckte, versuchte, sich zu mäßigen. „Steve, ständig wird davon berichtet. Ihr hört doch auch Radio und seht fern.“

„Klar, wir hören AFN und lesen die Stars and Stripes. Zum Appell kriegen wir die neuesten Nachrichten aus den USA und alle Informationen, die unsere Streitkräfte betreffen, mitgeteilt.“

Sie sehen und hören keine deutschen Sender. Die Verblüffung über diese Erkenntnis nahm Lydia den Wind aus den Segeln. Im nächsten Moment wurde ihr etwas klar: Natürlich nicht, sie sprechen ja kein Deutsch. Irgendwie leben wir doch in zwei verschiedenen Welten. Der Gedanke stimmte sie traurig.

Entschlossen nahm er ihre Hand, um weiterzugehen.

Lydia fühlte sich gemaßregelt, spürte, dass er sauer war, konnte aber keine Ruhe geben. „Was ist mit der RAF, Rote Armee Fraktion, Baader-Meinhof-Gruppe?“ Mist, das hört sich schon wieder schulmeisterlich und ziemlich spitzfindig an.

„Wir GIs kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten.“ Das klang arrogant.

Von einer Litfaßsäule am Straßenrand starrten ihnen die schwarz-weißen Gesichter von zwölf noch flüchtigen RAF-Terroristen entgegen. Mühsam verbiss sich Lydia einen Kommentar.

Den Rest des kurzen Weges schwiegen sie. Mit dem Betreten des Lokals löste sich die schlechte Stimmung zwischen ihnen auf. Alles war wie immer, eine Kneipe, in der Freunde warteten, Zigarettenrauch, leichter Bierdunst, dazu Glen Campbells Wichita Lineman.

Ben und Ellen winkten stürmisch, waren offensichtlich bester Laune.

Sie setzten sich zu ihnen.

„Hey.“

„Alles klar bei dir?“ Lydia griff über den Tisch und berührte ihre Freundin leicht an der Schulter.

Vor zwei Wochen war Ellen aus dem Haus ihrer Eltern ausgezogen, nachdem die ständigen Streitereien mit ihrem Vater, der zu viel trank, eskaliert waren. Mit Hilfe ihrer Mutter hatte sie ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gefunden. Ellen war bereits neunzehn Jahre, also volljährig. Bei dem Umzug hatten Schulkameraden und amerikanische Freunde geholfen.

„Alles bestens“, erklärte Ellen aufgeräumt. „Ben regt sich immer noch über das einfache Badezimmer in meiner WG auf. Vor allem die Badewanne findet er altertümlich. Er hat auch überhaupt kein Verständnis dafür, wenn Leute nicht jeden Tag duschen.“

Ben nickte heftig. „Nur GIs im Manöver sind entschuldigt“, erklärte er.

„Na ja, ich kenne viele Leute, die gar keine Dusche haben. Es ist noch nicht lange her, da war Samstag Badetag.“ Die  irritierten Gesichter der beiden Männer amüsierten Lydia.

„Unter der Woche gab es nur Katzenwäsche“, fügte Ellen hinzu, die offensichtlich ebenfalls ihren Spaß hatte.

Die Amerikaner schüttelten die Köpfe. Bei der jungen Kellnerin bestellte Steve für sich ein Bier und für Lydia eine Bluna.

„Mann, das vermisse ich, korrekte Duschen.“ Ben zündete sich eine Zigarette an.

Steve lachte. „Ja, und die Autos!“

Lydia und Ellen wechselten einen vielsagenden Blick. Sie mochten die riesigen amerikanischen Kutschen überhaupt nicht.

„Was vermisst ihr denn sonst noch so?“, wollte Ellen wissen.

Lydia war ganz Ohr.

„Angeln im Ozean. Zelten mit den Kumpels.“ Das war Steve.

Ja, New Jersey lag ja am Meer.

„Autokinos und Eistee.“ Genüsslich zog Ben an seiner Zigarette.

„Mit jeder Menge Eiswürfel.“ Steve strahlte über das ganze Gesicht, fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen. „Geschäfte, die immer offen sind“, fiel ihm noch ein.

Nachdem die Kellnerin die Getränke für Steve und Lydia serviert hatte, erhob Ben sein Glas und prostete seinem Kumpel zu. „Lass uns darauf trinken, dass das hier irgendwann vorbei ist, und dann heißt es ‚back to the world‘.“

Sie stießen ihre Biergläser gegeneinander.

Lydia erstarrte.

„Wie lange hast du eigentlich noch, Steve?“ Ben war offensichtlich bester Laune.

Bei dieser Frage schnürte sich Lydias Hals zu.

„Zwanzig Monate, zwei Wochen, drei Tage.“

Lydia fühlte Ellens besorgten Blick auf sich ruhen. Sie sah zu ihrer Freundin und lächelte tapfer. Bis dahin blieb ihnen ja noch jede Menge Zeit.

Steve schwelgte mit Ben in Erinnerungen an Highschool-Partys, Truthahnessen an Thanksgiving und Weihnachten in den Staaten.

Lydia und Ellen waren ausgeschlossen, zum Publikum degradiert.

Von einer Sekunde zur nächsten verwandelte sich Lydias Beklemmung in Wut. Back to the world! Das ich nicht lache. Hier bei uns spielt die Musik. Sie spürte einen unbändigen Drang, Steve und Ben etwas entgegenzuhalten, einen Kontrapunkt zu setzen. Plötzlich hatte sie genug von dem ewigen sich zurücknehmen, sich ruhig verhalten, nicht auffallen …

„Weißt du das Neueste von der Landshut-Entführung?“, wandte sie sich direkt an Ellen, sprach aber Englisch.

Die verstand sofort, worum es ging.

„Mittlerweile ist klar, dass es einen Zusammenhang zwischen der Flugzeugentführung und der Schleyersache gibt. Die palästinensischen Terroristen und die RAF kooperieren.“

„Terroristen, die sollte man aufhängen“, sagte Ben schlicht.

„Bei uns gibt es keine Todesstrafe“, entgegnete Ellen sachlich.

„Leider, ich sehe das genauso wie Ben“, erklärte Steve. Er hielt die Innenfläche der rechten Hand nach oben, um seine Worte zu unterstreichen.

Bei dieser Geste wurde es Lydia wieder warm ums Herz. Ich kenne ihn so gut.

„Wenn es hundertprozentig bewiesen ist, dass jemand gemordet hat, bin ich auch für die Todesstrafe. Das gilt auf jeden Fall für Terroristen“, fuhr Steve fort.

Ben nickte. „Red Army Faction.“

Steve deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Freund. „Du sagst es, Mann.“

Überrascht sah Lydia von einem zum andern. Sie wussten ja doch etwas.

Jetzt wandte Steve sich ihr zu. Seine Augen funkelten, die Andeutung eines Lächelns lag auf seinem Gesicht, aber da war noch etwas in seiner Miene – ein Anflug von Spott.

„Vor einigen Jahren wurden Bombenanschläge auf unsere Hauptquartiere in Frankfurt und Heidelberg verübt, beide Attentate in einem einzigen Monat. Dabei kamen Soldaten und zivile Bedienstete ums Leben. Das geht auf das Konto der RAF.“

Lydia horchte auf, zu verblüfft, um verärgert zu sein. Hatte er sie reingelegt? Oder war sie ihm nur auf die Nerven gegangen?

 

„Calling USA“, Roman von Paula Dreyser, eine „deutsch-amerikanische“ Geschichte im Mainz der späten 70er-Jahre

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Johannisfest 1978, GIs und – die Sache mit den Wiesbadenern

 

 

Lee Meikel 1
Blick auf die Rheinstraße in Mainz, 1976, Foto: Liborio Lee Palermo II, bearb. von Meikel Dachs
Echte Meenzer, 1971
Wilhelmstraße in Wiesbaden, 1971. Aus der Sammlung von Meikel Dachs.

 

Eine Leseprobe aus „Calling USA“ von Paula Dreyser 

Der Roman spielt Ende der 70er Jahre, überwiegend in Mainz. Geschildert wird die Beziehung zwischen Lydia, einer siebzehnjährigen Schülerin, und Steve, einem GI aus New Jersey. In dem Roman geht es auch darum, die Zeit „rüberzubringen“, die Ära des Kalten Krieges mit ihrer sehr speziellen Weltordnung und ihrem Zeitgeist.

 Vorgestellt wird eine Szene aus einem Kapitel mit deutlichem Bezug zur „Mainzer lokalen Kultur“. Lydia und Steve sind mit zwei Freunden am Samstag, dem 24. Juni 1978 unterwegs zum Johannisfest. Birgit und Clark sind ebenfalls ein Paar. Clark und Steve sind in Lee Barracks stationiert, in derselben Einheit. Die Mädchen absolvieren gerade gemeinsam eine Hotellehre im Rheingau. Lydia ist Mainzerin, Birgit stammt aus Wiesbaden.

Die Freunde haben sich bereits am Samstagvormittag am Hauptbahnhof getroffen. Gerade befinden sie sich am Anfang der Bahnhofstraße in Höhe des Wiener Waldes gegenüber von einem einschlägigen Etablissement.

….

Vergnügt klatschte Clark in die Hände. „Let’s go!“, erklärte er aufgeräumt.

Bereits um diese Uhrzeit glich der Bahnhof einem Bienenstock.

„Ist wieder was los in Good Old Germany!“ Clark, der mit Birgit vorging, drehte sich um und strahlte über das ganze Gesicht.

Birgit tat es ihm gleich und lachte wieder.

Kurz hinter dem Bahnhof trafen sie Rick und Anthony. Steves Gesicht verfinsterte sich. Automatisch drückte er Lydias Hand fester.

„Hallo Leute.“ Sie begrüßten sich.

Anthony zwinkerte Lydia zu. Steves Händedruck wurde schmerzhaft. Es war nicht zu vermeiden, dass sie ein Stück miteinander gingen, da sie denselben Weg hatten.

„Joe-Hannes-Vest!“ Anthony und Rick übten sich darin, das deutsche Wort auszusprechen. Nebenbei flirteten sie ungeniert junge Mädchen und Frauen an, nicht aufdringlich, aber deutlich mit „Hello“ und einem Diener. Die meisten lachten darüber, nur einige wenige zogen ein böses Gesicht und beeilten sich, wegzusehen. Am Ende der Bahnhofstraße angelangt wurden sie schneller, sodass sich der Abstand zu Lydia, Steve, Birgit und Clark allmählich vergrößerte.

Steve atmete auf. „Wartet einen Moment, nicht so eilig“, sagte er zu Clark und Birgit, die vorgingen.

Er will, dass Anthony so weit wie möglich weg von uns ist, schoss es Lydia durch den Kopf.

Sie stellten sich dicht vor das Gebäude der Hauptpost, um die vorbeilaufenden Menschen nicht zu behindern. Steve langte in die Tasche seiner Jeansjacke, holte die Kool hervor und bot allen der Reihe nach davon an. Nachdem er sich selbst bedient hatte, zündete er die Zigaretten an.

„Wie laufen wir weiter?“ Clark grinste vergnügt.

Birgit neben ihm lachte wieder.

„Na, was denkst du denn? Wir laufen mit dem Strom“, antwortete Steve.

„Ja, aber wohin gehen wir?“, fragte Birgit gut gelaunt. „Wo fängt das Fest an?“

„Da haben wir es wieder. Wiesbadener wissen gar nichts.“ Lydia zwinkerte Birgit zu. Mit der Äußerung spielte sie auf die traditionelle, zumindest unter jungen Leuten nicht ganz ernst gemeinte „Feindschaft“ zwischen den beiden Städten an.

Birgit lachte trällernd.

„Wir gehen weiter zum Schillerplatz. Ein Stück hinter dem Fastnachtsbrunnen stehen die ersten Buden. Das Fest zieht sich dann weiter über den Marktplatz, das danebenliegende Einkaufszentrum am Brand und Teile der Altstadt bis hin zum Rhein.“ Lydia schmunzelte und erklärte wohlwollend. „Ich zeige dir alles, Birgit, keine Sorge.“

„Aha!“ Birgit zog die Augenbrauen hoch.

Sie setzten sich wieder in Bewegung. Wie eine überdimensionale futuristische Skulptur erschien schon bald der Fastnachtsbrunnen in ihrem Blickfeld. Kurz vor dem Brunnen waren Tische und improvisierte Stände für den Verkauf alter Bücher aufgebaut. Im Vorbeigehen erhaschte Lydia einen kurzen Blick auf einen Tisch mit Kinderbüchern: Pucki, Nesthäkchen, rotwangige Mädchengesichter, umrahmt von blonden Locken. Menschen stöberten in Kästen, unterhielten sich, schlenderten zwischen den Tischen und Regalen entlang. Die Geräuschkulisse, die sich aus vielen Gesprächen zusammensetzte, hörte sich an wie lautes Summen.

Wie viele andere steuerten sie unbeirrt auf den Brunnen zu, der seine Geheimnisse erst offenbarte, wenn man vor ihm stand. Von einem auf vier Säulen thronenden Gerüst schimmerten Bronzefiguren in der Sonne. Meistens sprudelte Wasser in ein rundes Becken, heute jedoch nicht. Am Johannisfest und zu Fastnacht wurde das Wasser abgestellt. Sie blieben wieder einen Moment stehen, genossen das Treiben um sie herum.

„Was sind das für Figuren?“, fragte Birgit Lydia auf Deutsch. „Ich als Wiesbadenerin hab da ja keine Ahnung“, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

„Soviel ich weiß sind das Figuren aus dem Bereich der Fastnacht und der Folklore, also: Harlekin, Till Eulenspiegel, Schwellköpp …“, erwiderte Lydia.

„Aha!“ Birgit nickte anerkennend. „Das erzähl ich jetzt den Wiesbadenern, damit sie nicht dumm sterben müssen.“

„Lasst uns weitergehen.“ Steve zog Lydia mit sich.

„Oh ja, wir folgen einfach der Menge.“ Clark ließ Birgit für einen Moment los, um wieder in die Hände zu klatschen.

Sie reihten sich in den zu dieser Tageszeit noch nicht sehr dichten Besucherstrom ein. Die ersten Buden säumten die Straße. Der Duft von Bratwürsten, Schaschlik und Nierenspießen lag bereits in der Luft. Schon jetzt wurden Bier und Wein ausgeschenkt. Wie eine Glocke legte sich heitere Stimmung über die Stadt. Überall sah man Grüppchen von Amerikanern, wie immer gut erkennbar an Frisur und Kleidung.

„Hier ist tatsächlich was los“, erklärte Birgit fröhlich, als sie zwischen den Buden entlangliefen. „Fast so viel wie beim Theatrium und der Rheingauer Weinwoche in Wiesbaden.“

„Die Ladys haben da etwas miteinander“, sagte Clark zu Steve. „Lokalpatriotismus!“

Alle lachten.

Nach einer Weile trafen sie wieder auf Anthony und Rick, die sich interessiert einen Schießstand betrachteten. Als Belohnung für die Treffer lockten Plastikrosen und kleine Plüschtiere.

„Ja, tolle Aussichten“, rief Clark den beiden zu.

Sogar Steve musste schmunzeln.

Am Mainzer Dom angekommen kaufte Clark eine Flasche Wein und ein paar Dosen Cola. An einem der einfachen Tische nahmen sie Platz, tranken etwas und genossen die Stimmung.

„Cheers!“, rief ein kahlköpfiger Herr vom Nebentisch begeistert.

„Ich bin ein Berliner“, ergänzte ein anderer.

Die beiden prosteten ihnen zu.

Lachend hoben die Amerikaner ihre Becher. „Zum Wohl!“

„Mann, die armen Schweine, die heute Dienst haben“, erklärte Clark gerade genießerisch und schickte einen Flieger los, den er aus einer Serviette gebastelt hatte.

„O ja“, Steve stimmte grinsend zu.

„CQ ist ja nicht so schlimm, aber Guard Duty ist ätzend“, sinnierte Clark.

„Manche CQs sind echt übel drauf. Da kriegt man immer wieder erzählt, dass der Typ, mit dem man reden will, nicht ans Telefon kommen kann, weil er sich gerade duscht“, ereiferte sich Lydia.

„Das ist ja ein Ding. Na, dann weiß ich ja Bescheid.“ Amüsiert zog Birgit die Augenbrauen hoch und schmiegte sich enger an Clark.

„Kann doch sein“, sagte Steve.

„Aber nicht, wenn du viermal anrufst, alle halbe Stunde. So ausgiebig duscht nicht mal ihr Amerikaner“, entgegnete Lydia.

„Na, wenn der Typ lange genug an seinem Panzer rumgemacht hat, ist er auch ganz schön dreckig.“ Grinsend sah Clark in die Runde.

„Das mit dem Duschen ist doof, aber richtig gemein wird es, wenn der CQ behauptet, dass dein Freund mit einem anderen Mädchen losgezogen ist“, sagte Lydia.

„O ja, das ist nicht cool.“ Clark schüttelte den Kopf. Allerdings gelang es ihm kaum, sich ein Grinsen zu verkneifen.

„Wofür ist CQ eigentlich die Abkürzung?“ Birgit zündete sich eine Zigarette an.

Ja, dachte Lydia, gute Frage. Wir haben echt keine Ahnung.

„Charge of Quarters“, antworteten die Amerikaner im Chor.

Eine Weile schwiegen alle.

„Mensch, dieser Brunnen mit dem Ding, das sich aus eigener Kraft dreht, der ist doch hier in der Nähe“, fiel Steve ein.

Lydia nickte. „Perpetuum mobile“. Sie kaute das Wort genüsslich. „Das ist der Brunnen auf dem kleinen Platz vor dem Brand-Einkaufszentrum.“

Mit dem Zeigefinger wies sie quer über den Marktplatz, wo ein Durchgang zwischen den Häusern zu sehen war. „Der ist gleich da drüben. Von da aus können wir dann auch über den Brand und am Rathaus vorbei direkt zum Rhein laufen.“

Offensichtlich hatten die Amerikaner nicht alles verstanden, nickten aber. Sie verabschiedeten sich von den fröhlichen Tischnachbarn, schlenderten über den Marktplatz, ihrem Ziel entgegen, das fast in Sichtweite lag.

Intensiv nahm Lydia Steves festen Händedruck, seine unmittelbare Nähe und den Geruch seines Deos wahr. Sie war so glücklich, dass ihr die Tränen in die Augen traten.

Das war einer der Momente, von denen man hoffte, dass sie ewig dauern würden. Lydia hatte alles, was sie brauchte, alles was sie sich je gewünscht hatte…

 

„Calling USA“ von Paula Dreyser, erhältlich im VA-Verlag und überall im Buchhandel

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